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geschrieben am: 13.03.2001 um 20:19 Uhr
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Der kleine Baum
Es war einmal ein Gärtner. Eines Tages nahm er seine Frau bei der Hand und sagte: „Komm Frau, wir wollen einen Baum pflanzen." Sie gingen in den Garten und pflanzten einen Baum.
Es dauerte nicht lange, da konnte man das erste Grün zart. Aus der Erde sprießen sehen. Der Baum, der eigentlich doch kein richtiger Baum war, erblickte zum ersten Mal die Sonne. Er fühlte die Wärme ihrer Strahlen auf seine Blättchen und streckte sich ihnen hoch entgegen. Er begrüßte sie auf seine Weise, ließ sich glücklich bescheinen und fand es wunderschön, auf der Welt zu sein und zu wachsen.
„Schau", sagte der Gärtner zu seiner Frau, „ist er nicht niedlich, unser Baum?" und der Gärtner antwortete: „Ja, lieber Mann, wie du schon sagtest: Ein schöner Baum!"
Der Baum begann größer und höher zu wachsen und reckte sich immer weiter der Sonne entgegen. Er fühlte den Wind und spürte den Regen, genoß die warme und feste Erde um seine Wurzeln und war glücklich. Und jedes Mal, wenn der Gärtner und seine Frau nach ihm sahen, ihn mit Wasser tränkten und ihn einen schönen Baum nannten, fühlte es sich wohl. Denn da war jemand, der ihn mochte, ihn hegte, pflegte und beschützte. Er wurde lieb gehabt und war nicht allein auf der Welt. So wuchs es zufrieden vor sich hin und wollte nichts weiter als leben und wachsen, Wind und Regen spüren, Erde und Sonne fühlen, lieb gehabt werden und andere liebhaben.
Eines Tages merkte der Baum, dass es besonders schön war, ein wenig nach links zu wachsen, denn von dort schien die Sonne mehr auf seine Blätter. Also wuchs er jetzt ein wenig nach links.
„Schau", sagte der Gärtner zu seiner Frau, „unser Baum wächst schief. Seit wann dürfen denn Bäume schief wachsen, und dazu noch in unserem Garten? Ausgerechnet unser Baum! Gott hat die Bäume nicht erschaffen, damit sie schief wachsen, nicht wahr, Frau?" Seine Frau gab ihm recht. „du bist eine kluge und gottesfürchtige Frau", meinte der Gärtner darauf hin. „Hol also unsere Schere, den wir wollen unseren Baum gerade schneiden."
Der Baum weinte. Die Menschen, die ihn bisher so lieb gepflegt hatten, denen er vertraute, schnitten ihm die Äste ab, die der Sonne am nächsten waren. Er konnte nicht sprechen und deshalb nicht fragen. Er konnte nicht begreifen. Aber sie sagten ja, dass sie ihn lieb hätten und es gut mit ihm meinten. Und sie sagten, das ein richtiger Baum gerade wachsen müsse. Und Gott es nicht gern sähe, wenn er schief wachse. Also musste es wohl stimmen. Er wuchs nicht mehr der Sonne entgegen.
„Ist es nicht brav, unser Baum?", fragte der Gärtner seine Frau. „Sicher, lieber Mann", antwortete sie, „ du hast wie immer recht. Unser Baum ist ein braver Baum."
Der Baum begann zu verstehen. Wenn er machte, was ihm Spaß und Freude bereitete, dann war er anscheinend ein böse Baum. Er war nur lieb und brav, wenn er tat, was der Gärtner und seine Frau von ihm erwarteten. Als wuchs er jetzt strebsam in die Höhe und gab darauf acht, nicht mehr schief zu wachsen.
„Sieh dir das an", sagte der Gärtner eines Tages zu seiner Frau, unser Baum wächst unverschämt schnell in die Höhe: Gehört sich das denn für eine rechten Baum?" Seine Frau antwortete.: „Aber nein, lieber Mann, das gehört sich natürlich nicht. Gott will, dass Bäume langsam und in Ruhe wachsen. Und auch unser Nachbar meint, dass Bäume bescheiden sein müssten, ihrer wachse auch schön langsam." Der Gärtner lobte seine Frau und sagte, dass sie etwas von Bäumen verstehe. Und dann schickte er sie die Schere holen, um dem Baum die Äste zu stutzen.
Sehr lange weinte der Baum in dieser Nacht. Warum schnitt man ihm einfach die Äste ab, die dem Gärtner und seiner Frau nicht gefielen? Und wer war dieser Gott, der angeblich gegen alles war, was Spaß machte?
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