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geschrieben am: 20.09.2005 um 07:18 Uhr
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War Nietzsche unter dem Einfluß des Elternhauses noch selbst hochreligiös gewesen, so findet hier (Internatsschule Schulpforte) mit dem Verlust des Glaubens das entscheidende Ereignis in seinem Leben statt. Ein Sinnvakuum entsteht, das Nietzsche später - nachdem er mit der christlichen Lehre und Moral abgerechnet hat - durch eigene philosophische Sinnentwürfe aufzufüllen versucht. Tragisch daran ist, daß es ihm nicht gelang, seinem eigenen Leben einen erfüllten Sinn zu geben (grade in späteren Jahren schwankt er ständig zwischen Euphorie und Depression), daß er zwar mit seiner Diagnose des Christentums und des moralischen Verhaltens seiner Mitmenschen bleibende Werte schuf, aber mit seinen positiven Entwürfen vom Übermenschen und der relativierenden Moral den späteren Adepten seiner Philosophie Rechtfertigungen ihrer politisch kriminellen und inhumanen Handlungen bot. Tragisch deshalb, weil der Ausgangspunkt seines Denkens zutiefst human war - ein Versuch, die Entfremdung des Menschen von der Natur aufzuheben und Sinnhorizonte für ein diesseitig ausgerichtetes Leben zu schaffen.
(Aus dem Nachwort zu "Also sprach Zarathustra" von Hans-Dieter Kirst)
Nietzsche wollte nie einen Menschen schaffen, der sich über Andere stellt, oder Andere geringschätzt, viel eher wollte er eine bessere, individuellere Menschheit.
Bedenken wir hierbei, dass er gegen Ende der Industriealisierung lebte, kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen ein recht unzufriedenstellendes Bild der Rasse "Mensch" boten. Man stand auf, ging in die Fabrik, fabrizierte 10.000 Kämme und ging nach Hause zum Schlafen, nur um den nächsten Tag genauso zu verbringen.
Hier kommt Nietzsches Bild des Übermenschen, also des "besseren Menschen" zur Geltung. Nietzsche schrieb einmal: "Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter."
Der Mensch hat eine bestimmte Lebensspanne, was er daraus macht, ist seine Sache, aber haben die, welche nur für ihre Arbeit leben, wirklich gelebt? Sein Übermensch ist also jemand, der die Zeit und die Freiheit hat zu denken, zu hinterfragen und schlussendlich seine eigenen Schlüsse zu ziehen, selbst zu verstehen, ohne jemandem Nachzureden, nur weil es so bequemer ist.
Meinungen. - Die meisten Menschen sind nichts und gelten nichts, bis sie sich in allgemeine Überzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben, nach der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Menschen aber muß es heißen: erst der Träger macht die Tracht; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas anderes als Masken, Putz und Verkleidung.
(Nietzsche)
Der Individualist, der Freidenker welcher sich auch nicht von der damaligen überzogenen Moralvorstellung aufhalten ließ, jedoch nicht der kleinliche Egoist, welcher nur meint, er sei etwas Besseres, ist von Nietzsche gewollt.
Wert der Verkleinerung. - Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrechtzuerhalten, durchaus nötig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern.
(Nietzsche)
Jedoch kann auch kein Mensch ohne sein Ego, wie auch Nietzsche gerne zugab: "Wo immer ich gehe, folgt mir ein Hund namens Ego." Dabei sollte es jedoch auch bleiben, der Hund der hinterher trottet sollte nicht zum Monster das vorweg läuft werden. Das was wir heute so gerne als "Menschlichkeit" bezeichnen, was aber längst nicht so menschlich ist wie wir es gerne hätten, steht bei Nietzsche immer im Vordergrund. Das war es auch, was Nietzsche bei seinen "Adepten" (siehe Absatz 1), verzweifeln ließ, das Unverständnis seiner Worte, ja die Fehlinterpretation dieser um den eigenen unmenschlichen Taten Rechtfertigung zu geben.
Sollte es den Übermenschen im Sinne von Nietzsche geben, sind es wohl eher Leute wie Ghandi und Malcom X (z. B.), die mit ihren Gedanken und Taten etwas dafür taten, dass die ganze Menschheit einen Schritt nach Vorne machte. D. h. aber noch lange nicht, dass man als "normaler Mensch" nicht danach streben sollte, seinen Horizont zu erweitern, zu hinterfragen und eine größere Einsicht unter Berücksichtigung aller Faktoren zu erhalten.
Du solltest das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in bezug auf entgegengesetzte Werte und die ganze intellektuelle Einbuße, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die notwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit.
(Nietzsche) |
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